URTEIL DES
GERICHTSHOFES
9. März 1999 (1)
"Niederlassungsfreiheit — Errichtung einer
Zweigniederlassung durch eine Gesellschaft ohne tatsächliche
Geschäftstätigkeit
— Umgehung des nationalen Rechts — Ablehnung der
Eintragung"
In der Rechtssache C-212/97
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177
EG-Vertrag vom Højesteret (Dänemark) in dem bei diesem anhängigen
Rechtsstreit
Centros Ltd
gegen
Erhvervs- og Selskabsstyrelsen
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die
Auslegung der Artikel 52, 56 und 58 EG-Vertrag
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez
Iglesias, der Kammerpräsidenten P. J. G. Kapteyn, J.-P. Puissochet, G.
Hirsch und P. Jann sowie der Richter G. F. Mancini, J.
C. Moitinho de Almeida, C. Gulmann, J. L. Murray, D. A. O.
Edward, H. Ragnemalm, L. Sevón, M. Wathelet
(Berichterstatter), R. Schintgen und K. M. Ioannou,
Generalanwalt: A. La Pergola
Kanzler: H. von Holstein,
Hilfskanzler
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
— der Erhvervs- og Selskabsstyrelse, vertreten durch
Rechtsanwalt Karsten Hagel-Sørensen, Kopenhagen,
— der dänischen Regierung, vertreten durch Peter Biering,
Abteilungsleiter im Ministerium für Auswärtige
Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,
— der französischen Regierung, vertreten durch Kareen
Rispal-Bellanger, Abteilungsleiterin in der Direktion für
Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige
Angelegenheiten, und Gautier Mignot, Sekretär für Auswärtige
Angelegenheiten in derselben Direktion, als
Bevollmächtigte,
— der niederländischen Regierung, vertreten durch
Rechtsberater Adriaan Bos, Ministerium für Auswärtige
Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,
— der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten
durch Stephanie Ridley, Treasury Solicitor's Department, als
Bevollmächtigte im Beistand von Derrick Wyatt, QC,
— der Kommission der Europäischen Gemeinschaften,
vertreten durch Rechtsberater Antonio Caeiro und durch Hans
Støvlbæk, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Erhvervs-
og Selskabsstyrelse, vertreten durch Karsten Hagel-Sørensen,
der französischen Regierung, vertreten durch Gautier
Mignot, der niederländischen Regierung, vertreten durch Marc Fiestra,
Rechtsberater im Ministerium für Auswärtige
Angelegenheiten, als Bevollmächtigten, der schwedischen Regierung, vertreten
durch Erik Brattgård, Ministerialrat im Ministerium für
Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten, der Regierung des
Vereinigten Königreichs, vertreten durch Derrick Wyatt,
und der Kommission, vertreten durch Antonio Caeiro und Hans
Støvlbæk, in der Sitzung vom 19. Mai 1998,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in
der Sitzung vom 16. Juli 1998,
folgendes
Urteil
1. Das Højesteret hat mit Beschluß vom
3. Juni 1997, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Juni 1997, gemäß Artikel 177
EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 52, 56 und 58 EG-Vertrag
zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2. Diese Frage stellt sich im Rahmen
eines Rechtsstreits zwischen der Centros Ltd (nachstehend: Centros), einer am
18. Mai 1992 in England und Wales eingetragenen "private limited company", und
der dem dänischen Handelsministerium unterstehenden Erhvervs- og
Selskabsstyrelse (Zentralverwaltung für Handel und Gesellschaften) wegen deren
Weigerungen, eine Zweigniederlassung von Centros in Dänemark einzutragen.
3. Aus den Akten ergibt sich, daß die
Centros seit ihrer Errichtung keine Geschäftstätigkeit entfaltet hat. Da das
Recht des Vereinigten Königreichs bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung
die Einzahlung eines Mindestgesellschaftskapitals nicht vorschreibt, wurde das
Gesellschaftskapital der Centros von 100 UKL weder in die Gesellschaft
einbezahlt noch zu deren Verwendung individualisiert. Das Kapital zerfällt in
zwei Anteile, deren Eigentümer die Eheleute Bryde, in Dänemark ansässige
dänische Staatsangehörige, sind. Frau Bryde ist Direktorin der Centros, deren
Sitz sich im Vereinigten Königreich, an der Adresse eines Freundes von Herrn
Bryde, befindet.
4. Nach dänischem Recht ist die
Centros als "private limited company" als eine ausländische Gesellschaft mit
beschränkter Haftung anzusehen. Die Vorschriften über die Anmeldung von
Zweigniederlassungen solcher Gesellschaften finden sich im Anpartsselskabslov
(Gesetz über die Gesellschaften mit beschränkter Haftung; GmbH-Gesetz).
5. In § 117 dieses Gesetzes ist u. a.
vorgesehen:
"1) Die Gesellschaften mit beschränkter Haftung und die ausländischen
Gesellschaften gleicher Rechtsform, die in einem Mitgliedstaat der
Europäischen Gemeinschaften niedergelassen sind, können in Dänemark über eine
Zweigniederlassung tätig werden."
6. Im Sommer 1992 beantragte Frau
Bryde bei der Zentralverwaltung die Eintragung einer Zweigniederlassung von
Centros in Dänemark.
7. Die Zentralverwaltung lehnte die
Eintragung u. a. mit der Begründung ab, die Centros, die seit ihrer Errichtung
keine Geschäftstätigkeit im Vereinigten Königreich entfaltet habe,
beabsichtige unter Umgehung der nationalen Vorschriften insbesondere über die
Einzahlung eines Mindestgesellschaftskapitals von 200 000 DKR gemäß dem Gesetz
Nr. 886 vom 21. Dezember 1991 in Wirklichkeit, in Dänemark nicht eine
Zweigniederlassung, sondern einen Hauptsitz zu errichten.
8. Die Centros erhob gegen den
ablehnenden Bescheid Klage beim Østre Landsret.
9. Der Østre Landsret folgte in einem
Urteil vom 8. September 1995 dem Vorbringen der Zentralverwaltung. Die Centros
legte ein Rechtsmittel beim Højesteret ein.
10. Im Rahmen dieses Verfahrens macht
die Centros geltend, sie erfülle die Voraussetzungen, von deren Erfüllung das
GmbH-Gesetz die Eintragung der Zweigniederlassung einer ausländischen
Gesellschaft abhängig mache. Da sie im Vereinigten Königreich rechtmäßig
errichtet worden sei, habe sie nach Artikel 52 in Verbindung mit Artikel 58
EG-Vertrag das Recht, eine Zweigniederlassung in Dänemark zu eröffnen.
11. Daß sie seit ihrer Errichtung im
Vereinigten Königreich keine Geschäftstätigkeit entfaltet habe, berühre ihre
Niederlassungsfreiheit nicht. Der Gerichtshof habe nämlich im Urteil vom 10.
Juli 1986 in der Rechtssache 79/85 (Segers, Slg. 1986, 2375) festgestellt, daß
es gegen die Artikel 52 und 58 EG-Vertrag verstoße, wenn die zuständigen
Stellen eines Mitgliedstaats dem Geschäftsführer einer Gesellschaft den
Anschluß an ein nationales Krankenversicherungssystem nur aus dem Grund
verweigerten, daß die Gesellschaft ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat
habe, auch wenn sie dort keine Geschäftstätigkeiten entfalte.
12. Die Zentralverwaltung macht
geltend, die Verweigerung der Eintragung stehe im Einklang mit den Artikeln 52
und 58 EG-Vertrag, da die Anmeldung einer Zweigniederlassung in Dänemark als
eine Umgehung des im nationalen Recht vorgesehenen
Mindesteinlagenerfordernisses anzusehen sei. Die Verweigerung der Eintragung
sei außerdem erforderlich, um die öffentlichen und privaten Gläubiger und die
Vertragspartner zu schützen und den betrügerischen Bankrott zu bekämpfen.
13. Das Højesteret hat demgemäß das
Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung
vorgelegt:
Ist es mit Artikel 52 in Verbindung mit den Artikeln 56 und 58 EG-Vertrag
vereinbar, die Eintragung einer Zweigniederlassung einer Gesellschaft, die
ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat und mit einem
Gesellschaftskapital von 100 UKL (etwa 1 000 DKR) nach dem Recht dieses
Mitgliedstaats rechtmäßig errichtet worden ist und besteht, abzulehnen, wenn
die Gesellschaft selbst keine Geschäftstätigkeit betreibt, die
Zweigniederlassung aber in der Absicht errichtet wird, die gesamte
Geschäftstätigkeit in dem Land zu betreiben, in dem die Zweigniederlassung
errichtet wird, und wenn davon auszugehen ist, daß dieses Vorgehen statt der
Errichtung einer Gesellschaft in dem letztgenannten Mitgliedstaat gewählt
wurde, um die Einzahlung eines Mindestgesellschaftskapitals von 200 000 DKR,
heute 125 000 DKR, zu vermeiden?
14. Die Frage des nationalen Gerichts
geht dahin, ob ein Mitgliedstaat, der die Eintragung der Zweigniederlassung
einer Gesellschaft verweigert, die in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie
ihren Sitz hat, rechtmäßig errichtet worden ist, aber keine
Gesellschaftstätigkeit entfaltet, gegen die Artikel 52 und 58 EG-Vertrag
verstößt, wenn die Zweigniederlassung es der Gesellschaft ermöglichen soll,
ihre gesamte Geschäftstätigkeit in dem Staat auszuüben, in dem diese
Zweigniederlassung errichtet wird, ohne dort eine Gesellschaft zu errichten,
und damit das dortige Recht über die Errichtung von Gesellschaften zu umgehen,
das höhere Anforderungen an die Einzahlung des Mindestgesellschaftskapitals
stellt.
15. Die Zentralverwaltung bestreitet
nicht, daß jede Aktiengesellschaft oder Gesellschaft mit beschränkter Haftung,
die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, in Dänemark mittels einer
Zweigniederlassung tätig werden kann. Im allgemeinen akzeptiert sie also die
Eintragung einer Zweigniederlassung einer nach dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats errichteten Gesellschaft in Dänemark. Insbesondere hätte sie
die Eintragung der Zweigniederlassung der Centros in Dänemark zugelassen, wenn
diese in England und Wales eine Geschäftstätigkeit entfaltet hätte.
16. Nach den Ausführungen der
dänischen Regierung ist Artikel 52 EG-Vertrag im Ausgangsfall nicht anwendbar,
da es sich um eine rein interne dänische Situation handele. Die Eheleute Bryde,
die dänische Staatsangehörige seien, hätten nämlich im Vereinigten Königreich
eine Gesellschaft errichtet, ohne dort irgendeine tatsächliche
Geschäftstätigkeit zu entfalten, mit dem einzigen Ziel, mittels einer
Zweigniederlassung in Dänemark eine Geschäftstätigkeit auszuüben und so die
Anwendung des dänischen Rechts über die Errichtung der Gesellschaften mit
beschränkter Haftung zu umgehen. Unter solchen Umständen stelle die Errichtung
einer Gesellschaft durch die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats in einem
anderen Mitgliedstaat keinen gemeinschaftsrechtlich insbesondere im Hinblick
auf die Niederlassungsfreiheit relevanten, über den nationalen Rahmen
hinausweisenden Aspekt dar.
17. Eine Sachlage, in der eine nach
dem Recht eines Mitgliedstaats, in dem sie ihren satzungsgemäßen Sitz hat,
gegründete Gesellschaft eine Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat
gründen will, fällt unter das Gemeinschaftsrecht. Daß die Gesellschaft im
ersten Mitgliedstaat nur errichtet wurde, um sich in dem zweiten Mitgliedstaat
niederzulassen, in dem die Geschäftstätigkeit im wesentlichen oder
ausschließlich ausgeübt werden soll, ist dabei ohne Bedeutung (vgl. in diesem
Sinne das Urteil Segers, Randnr. 16).
18. Daß die Eheleute Bryde die Centros
im Vereinigten Königreich zu dem Zweck gegründet haben, das dänische Recht
über die Einzahlung eines Mindestgesellschaftskapitals zu umgehen, was weder
in den schriftlichen Erklärungen noch in der mündlichen Verhandlung bestritten
wurde, ändert ebenfalls nichts daran, daß die Gründung einer
Zweigniederlassung in Dänemark durch diese britische Gesellschaft unter die
Niederlassungsfreiheit im Sinne der Artikel 52 und 58 EG-Vertrag fällt. Die
Frage der Anwendung der Artikel 52 und 58 EG-Vertrag ist nämlich eine andere
als die, ob ein Mitgliedstaat Maßnahmen ergreifen kann, um zu verhindern, daß
sich einige seiner Staatsangehörigen unter Mißbrauch der durch den EG-Vertrag
geschaffenen Erleichterungen der Anwendung des nationalen Rechts entziehen.
19. Die Eheleute Bryde machen geltend,
die Verweigerung der Eintragung ihrer nach dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats, in dem sie ihren Sitz hat, errichteten Gesellschaft in
Dänemark stelle eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar. Nach
ständiger Rechtsprechung umfaßt die Niederlassungsfreiheit, die Artikel 52
EG-Vertrag den Gemeinschaftsangehörigen zuerkennt, das Recht zur Aufnahme und
Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie zur Errichtung von Unternehmen
und zur Ausübung der Unternehmertätigkeit nach den Bestimmungen, die im
Niederlassungsstaat für dessen eigene Angehörigen gelten. Außerdem stellt
Artikel 58 EG-Vertrag die nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten
Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre
Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben, den natürlichen Personen
gleich, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind.
20. Hieraus folgt unmittelbar, daß
diese Gesellschaften das Recht haben, ihre Tätigkeit in einem anderen
Mitgliedstaat durch eine Agentur oder eine Zweigniederlassung oder
Tochtergesellschaft auszuüben, wobei ihr satzungsmäßiger Sitz, ihre
Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung, ebenso wie die
Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen, dazu dient, ihre Zugehörigkeit
zur Rechtsordnung eines Mitgliedstaats zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne die
Urteile Segers, Randnr. 13; vom 28. Januar 1986 in der Rechtssache 270/83,
Kommission/Frankreich, Slg. 1986, 273, Randnr. 18; vom 13. Juli 1993 in der
Rechtssache C-330/91, Commerzbank, Slg. 1993, I-4017, Randnr. 13; und vom 16.
Juli 1998 in der Rechtssache C-264/96, ICI, Slg. 1998, I-4695, Randnr. 20).
21. Verweigert ein Mitgliedstaat unter
bestimmten Umständen die Eintragung der Zweigniederlassung einer Gesellschaft,
die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, so werden die nach dem
Recht dieses anderen Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften an der
Wahrnehmung ihres Niederlassungsrechts aus den Artikeln 52 und 58 EG-Vertrag
gehindert.
22. Ein solches Vorgehen beschränkt
also die Ausübung der in diesen Bestimmungen gewährleisteten Freiheiten.
23. Die dänischen Behörden machen
geltend, die Eheleute Bryde könnten sich dennoch nicht auf diese Bestimmungen
berufen, da die von ihnen beabsichtigte gesellschaftsrechtliche Konstruktion
einzig den Zweck verfolge, die Anwendung des nationalen Rechts über die
Errichtung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung zu umgehen, und deshalb
eine mißbräuchliche Ausnutzung des Niederlassungsrechts darstelle. Das
Königreich Dänemark sei deshalb berechtigt, Maßnahmen zur Verhinderung eines
solchen Mißbrauchs zu treffen, indem es die Eintragung der Zweigniederlassung
verweigere.
24. Nach der Rechtsprechung des
Gerichtshofes ist ein Mitgliedstaat zwar berechtigt, Maßnahmen zu treffen, die
verhindern sollen, daß sich einige seiner Staatsangehörigen unter Mißbrauch
der durch den EG-Vertrag geschaffenen Möglichkeiten der Anwendung des
nationalen Rechts entziehen; die mißbräuchliche oder betrügerische Berufung
auf Gemeinschaftsrecht ist nicht gestattet (vgl. u. a. im Bereich des freien
Dienstleistungsverkehrs die Urteile vom 3. Dezember 1974 in der Rechtssache
33/74, Van Binsbergen, Slg. 1974, 1299, Randnr. 13; vom 3. Februar 1993 in der
Rechtssache C-148/91, Veronica Omroep Organisatie, Slg. 1993, I-487, Randnr.
12; und vom 5. Oktober 1994 in der Rechtssache C-23/93, TV10, Slg. 1994,
I-4795, Randnr. 21; auf dem Gebiet der Niederlassungsfreiheit Urteile vom 7.
Februar 1979 in der Rechtssache 115/78, Knoors, Slg. 1979, 399, Randnr. 25;
und vom 3. Oktober 1990 in der Rechtssache C-61/89, Bouchoucha, Slg. 1990,
I-3551, Randnr. 14; auf dem Gebiet des freien Warenverkehrs Urteil vom 10.
Januar 1985 in der Rechtssache 229/83, Leclerc u. a., Slg. 1985, 1, Randnr.
27; auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit Urteil vom 2. Mai 1996 in der
Rechtssache C-206/94, Paletta, Slg. 1996, I-2357, Randnr. 24; auf dem Gebiet
der Freizügigkeit der Arbeitnehmer Urteil vom 21. Juni 1988 in der Rechtssache
39/86, Lair, Slg. 1988, 3161, Randnr. 43; auf dem Gebiet der gemeinsamen
Agrarpolitik Urteil vom 3. März 1993 in der Rechtssache C-8/92, General Milk
Products, Slg. 1993, I-779, Randnr. 21; auf dem Gebiet des Gesellschaftsrecht
Urteil vom 12. Mai 1998 in der Rechtssache C-367/96, Kefalas u. a., Slg. 1998,
I-2843, Randnr. 20).
25. Zwar können die nationalen
Gerichte unter solchen Umständen im Einzelfall das mißbräuchliche oder
betrügerische Verhalten der Betroffenen auf der Grundlage objektiver Kriterien
in Rechnung stellen, um ihnen gegebenenfalls die Berufung auf das einschlägige
Gemeinschaftsrecht zu verwehren; sie haben jedoch bei der Würdigung eines
solchen Verhaltens die Ziele der fraglichen Bestimmungen zu beachten (Urteil
Paletta, Randnr. 25).
26. Im Ausgangsfall sind die
nationalen Vorschriften, denen sich die Betroffenen entziehen wollten,
Vorschriften über die Errichtung von Gesellschaften, aber nicht Vorschriften
über die Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten. Ziel der
Vertragsvorschriften über die Niederlassungsfreiheit ist es jedoch gerade, es
den nach dem Recht eines Mitgliedstaats errichteten Gesellschaften, die ihren
satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung
innerhalb der Gemeinschaft haben, zu erlauben, mittels einer Agentur,
Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft in anderen Mitgliedstaaten tätig
zu werden.
27. Damit kann es für sich allein
keine mißbräuchliche Ausnutzung des Niederlassungsrechts darstellen, wenn ein
Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der eine Gesellschaft gründen möchte,
diese in dem Mitgliedstaat errichtet, dessen gesellschaftsrechtlichen
Vorschriften ihm die größte Freiheit lassen, und in anderen Mitgliedstaaten
Zweigniederlassungen gründet. Das Recht, eine Gesellschaft nach dem Recht
eines Mitgliedstaats zu errichten und in anderen Mitgliedstaaten
Zweigniederlassungen zu gründen, folgt nämlich im Binnenmarkt unmittelbar aus
der vom EG-Vertrag gewährleisteten Niederlassungsfreiheit.
28. Dabei ist unerheblich, daß das
Gesellschaftsrecht in der Gemeinschaft nicht voll harmonisiert worden ist;
außerdem bleibt es dem Rat jederzeit überlassen, aufgrund der ihm in Artikel
54 Absatz 3 Buchstabe g EG-Vertrag übertragenen Befugnisse diese
Harmonisierung zu vervollständigen.
29. Daß eine Gesellschaft in dem
Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, keine Geschäftstätigkeiten entfaltet
und ihre Tätigkeit ausschließlich im Mitgliedstaat ihrer Zweigniederlassung
ausübt, belegt zudem nach Randnummer 16 des Urteils Segers noch kein
mißbräuchliches und betrügerisches Verhalten, das es dem letzteren
Mitgliedstaat erlauben würde, auf diese Gesellschaft die
Gemeinschaftsvorschriften über das Niederlassungsrecht nicht anzuwenden.
30. Somit ist es mit den Artikeln 52
und 58 EG-Vertrag unvereinbar, daß ein Mitgliedstaat es mit der Begründung
ablehnt, die Zweigniederlassung einer nach dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats, in dem sie ihren Sitz hat, errichteten Gesellschaft
einzutragen, die Zweigniederlassung solle es der Gesellschaft ermöglichen,
ihre gesamte Geschäftstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat auszuüben, wobei die
Zweigniederlassung dem nationalen Recht über die Einzahlung eines
Mindestgesellschaftskapitals entzogen werde, da diese Weigerung jede
Wahrnehmung der Freiheit zur Gründung einer Zweigniederlassung verhindert, die
durch die Artikel 52 und 58 gerade gewährleistet werden soll.
31. Es stellt sich noch die Frage, ob
das nationale Vorgehen aus den von den dänischen Behörden angeführten Gründen
gerechtfertigt sein könnte.
32. Unter Bezugnahme auf Artikel 56
EG-Vertrag und auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes zu den zwingenden
Gründen des Allgemeininteresses macht die Zentralverwaltung geltend, die
Pflicht der Gesellschaften mit beschränkter Haftung zur Einzahlung eines
Mindestgesellschaftskapitals verfolge zum einen den Zweck, die finanzielle
Solidität der Gesellschaften zu verstärken, um die öffentlichen Gläubiger vor
der Gefahr zu schützen, daß die öffentlichen Forderungen uneinbringlich
würden, da diese anders als private Gläubiger ihre Forderungen nicht durch
eine Sicherheit oder Bürgschaft sichern könnten; zum anderen solle sie ganz
allgemein alle öffentlichen und privaten Gläubiger schützen, indem sie der
Gefahr eines betrügerischen Bankrotts aufgrund der Zahlungsunfähigkeit von
Gesellschaften mit unzureichendem Anfangskapital vorbeuge.
33. Es gebe kein milderes Mittel, um
diese Ziele zu erreichen. Das andere Mittel zum Schutz der Gläubiger,
gesetzlich bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen eine Durchgriffshaftung
der Gesellschafter vorzusehen, sei nicht milder als die Verpflichtung zur
Einzahlung eines Mindestgesellschaftskapitals.
34. Wie festgestellt, sind diese
Gründe für Artikel 56 EG-Vertrag ohne Belang. Im übrigen sind nach der
Rechtsprechung des Gerichtshofes nationale Maßnahmen, die die Ausübung der
durch den EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten behindern oder weniger
attraktiv machen können, zulässig, wenn vier Voraussetzungen erfüllt sind: sie
müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen zwingenden
Gründen des Allgemeininteresses entsprechen, sie müssen zur Erreichung des
verfolgten Zieles geeignet sein, und sie dürfen nicht über das hinausgehen,
was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist (vgl. die Urteile vom 31.
März 1993 in der Rechtssache C-19/92, Kraus, Slg. 1993, I-1663, Randnr. 32;
und vom 30. November 1995 in der Rechtssache C-55/94, Gebhard, Slg. 1995,
I-4165, Randnr. 37).
35. Diese Voraussetzungen sind im
Ausgangsfall nicht erfüllt. Zum einen ist das dänische Vorgehen nicht
geeignet, das mit ihm verfolgte Ziel des Gläubigerschutzes zu erreichen, da
die Zweigniederlassung in Dänemark eingetragen worden wäre, wenn die
Gesellschaft eine Geschäftstätigkeit im Vereinigten Königreich ausgeübt hätte,
obwohl die dänischen Gläubiger in diesem Fall ebenso gefährdet gewesen wären.
36. Da die Gesellschaft als
Gesellschaft englischen Rechts, nicht als Gesellschaft dänischen Rechts
auftritt, ist den Gläubigern weiter bekannt, daß sie nicht dem dänischen Recht
über die Errichtung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung unterliegt;
sie können sich auf bestimmte gemeinschaftsrechtliche Schutzvorschriften
berufen wie die Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978
aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g des Vertrages über den
Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (ABl. L 222, S. 11)
und die Elfte Richtlinie 89/666/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 über die
Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von
Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines
anderen Staates unterliegen (ABl. L 395, S. 36).
37. Außerdem könnten entgegen dem
Vorbringen der dänischen Behörden mildere Maßnahmen getroffen werden, die die
Grundfreiheiten weniger beeinträchtigten. So könnten etwa die öffentlichen
Gläubiger rechtlich die Möglichkeit erhalten, sich die erforderlichen
Sicherheiten einräumen zu lassen.
38. Kann somit ein Mitgliedstaat die
Eintragung der Zweigniederlassung einer nach dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats, in der sie ihren Sitz hat, errichteten Gesellschaft nicht
verweigern, so kann er doch alle geeigneten Maßnahmen treffen, um Betrügereien
zu verhindern oder zu verfolgen. Das gilt sowohl — gegebenenfalls im
Zusammenwirken mit dem Mitgliedstaat, in dem sie errichtet wurde — gegenüber
der Gesellschaft selbst als auch gegenüber ihren Gesellschaftern, wenn diese
sich mittels der Errichtung der Gesellschaft ihren Verpflichtungen gegenüber
inländischen privaten oder öffentlichen Gläubigern entziehen möchten. Jedoch
kann die Bekämpfung von Betrügereien nicht rechtfertigen, die Eintragung einer
Zweigniederlassung einer in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen
Gesellschaft zu verweigern.
39. Die Vorlagefrage ist demgemäß
dahin zu beantworten, daß ein Mitgliedstaat, der die Eintragung der
Zweigniederlassung einer Gesellschaft verweigert, die in einem anderen
Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, rechtmäßig errichtet worden ist,
aber keine Geschäftstätigkeit entfaltet, gegen die Artikel 52 und 58
EG-Vertrag verstößt,wenn die Zweigniederlassung es der Gesellschaft
ermöglichen soll, ihre gesamte Geschäftstätigkeit in dem Staat auszuüben, in
dem diese Zweigniederlassung errichtet wird, ohne dort eine Gesellschaft zu
errichten und damit das dortige Recht über die Errichtung von Gesellschaften
zu umgehen, das höhere Anforderungen an die Einzahlung des
Mindestgesellschaftskapitals stellt. Diese Auslegung schließt jedoch nicht
aus, daß die Behörden des betreffenden Mitgliedstaats alle geeigneten
Maßnahmen treffen können, um Betrügereien zu verhindern oder zu verfolgen. Das
gilt sowohl — gegebenenfalls im Zusammenwirken mit dem Mitgliedstaat, in dem
sie errichtet wurde — gegenüber der Gesellschaft selbst als auch gegenüber den
Gesellschaftern, wenn diese sich mittels der Errichtung der Gesellschaft ihren
Verpflichtungen gegenüber inländischen privaten oder öffentlichen Gläubigern
entziehen möchten.
Kosten
40. Die Auslagen der dänischen, der
französischen, der niederländischen und der schwedischen Regierung, des
Vereinigten Königreichs sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof
Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des
Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem
vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher
Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Højesteret mit Beschluß vom 3. Juni 1997 vorgelegte Frage für
Recht erkannt:
Ein Mitgliedstaat, der die Eintragung der Zweigniederlassung einer
Gesellschaft verweigert, die in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren
Sitz hat, rechtmäßig errichtet worden ist, aber keine Geschäftstätigkeit
entfaltet, verstößt gegen die Artikel 52 und 58 EG-Vertrag, wenn die
Zweigniederlassung es der Gesellschaft ermöglichen soll, ihre gesamte
Geschäftstätigkeit in dem Staat auszuüben, in dem diese Zweigniederlassung
errichtet wird, ohne dort eine Gesellschaft zu errichten und damit das dortige
Recht über die Errichtung von Gesellschaften zu umgehen, das höhere
Anforderungen an die Einzahlung des Mindestgesellschaftskapitals stellt. Diese
Auslegung schließt jedoch nicht aus, daß die Behörden des betreffenden
Mitgliedstaats alle geeigneten Maßnahmen treffen können, um Betrügereien zu
verhindern oder zu verfolgen. Das gilt sowohl — gegebenenfalls im
Zusammenwirken mit dem Mitgliedstaat, in dem sie errichtet wurde — gegenüber
der Gesellschaft selbst als auch gegenüber den Gesellschaftern, wenn diese
sich mittels der Errichtung der Gesellschaft ihren Verpflichtungen gegenüber
inländischen privaten oder öffentlichen Gläubigern entziehen möchten.
Rodríguez Iglesias
Kapteyn
Puissochet
Hirsch
Jann
Mancini
Moitinho de Almeida
Gulmann
Murray
Edward
Ragnemalm
Sevón
Wathelet
Schintgen
Ioannou
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9.
März 1999.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias
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